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Macht „Gesundheit für Alle“ zu unserem Kampf für das „Buen Vivir“!

Fünfte People‘s Health Assembly in Mar del Plata: feministisch, antikapitalistisch und für umfassende Gesundheit

Mehr als 600 Aktivist*innen aus 60 Ländern versammelten sich vom 7. bis 11. April in Mar del Plata, Argentinien, zur fünften People’s Health Assembly (PHA5): Solidarität mit Gaza, der Kampf gegen die weltweite Finanzialisierung und Privatisierung von Gesundheitswesen und Ernährungssicherheit, gegen Femicide, für Gender/LGBTQI+Rechte, für eine Transformation von globaler Ökonomie und Ökologie – Gesundheit für alle!  Indigene Bewegungen aus Süd- und Mesoamerika verbanden dies mit der Forderung nach Dekolonialisierung des Wissens um Gesundheit hin zum integralen Verständnis des „Buen Vivir“.

 „Als wir die PHA5 übernommen haben, war unser Land noch ein anderes“. sagte die argentinische Mitorganisatorin Carmen Perez zur Eröffnung. Argentinien hatte erst letzten Sommer die Ausrichtung der Versammlung kurzfristig vom kolumbianischen Cali übernommen. „Motorsäge“ Milei und die Lage in Argentinien waren in Mar del Plata allgegenwärtig. Marina, eine Promotora de Salud aus den Villas von Buenos Aires (Basisgesundheitsarbeiterin aus den Elendsvierteln) erfuhr während ihres Vortrages zu „Poder Popular“ im Gesundheitswesen am zweiten Tag der Veranstaltung von der Verhaftung ihrer Genoss*innen bei einer Demo gegen Entlassungen im öffentlichen Dienst.

Die fünfte Versammlung ist seit Gründung des People’s Health Movement die zweite in Lateinamerika. 1978 hatten Gesundheitsminister*innen aus 134 Ländern, die WHO und UNICEF zu einer Konferenz im damals sowjetischen Alma-Ata zusammengerufen hatten, das Ziel „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“ verkündet. Grundlage war ein umfassendes Konzept „Primärer Gesundheitspflege“ von Krankheitsverhütung bis Rehabilitation. Auch hatte die „Erklärung von Alma-Ata“ deutlich gemacht, dass zum Erreichen des Ziels Gesundheit für alle die Errichtung einer Neuen Internationalen Weltwirtschaftsordnung notwendig sein würde, wie sie die Generalversammlung der Vereinten Nationen bereits 1974 gefordert hatte. Mit der neoliberalen Revolution von Reagan und Thatcher seit den 1980er Jahren ist die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung verlaufen. Neoliberale Wirtschaft wurde globalisiert, Gesundheitswesen im Globalen Süden privatisiert und die Ungleichheiten in der Verwirklichung des Rechtes auf Gesundheit nahmen immer weiter zu. Das People‘s Health Movement entstand als Antwort auf diese Situation. Am  8. Dezember 2000 trafen sich 1453 Delegierte aus 92 Ländern in Savar, Bangladesch, zur ersten People‘s Health Assembly. Sie verabschiedeten eine Erklärung, die Peoples‘ Health Charta, um die Forderung nach Gesundheit für Alle erneut zu bekräftigen. People’s Health Assemblies haben seither in Cuenca, Ecuador (2005), Cape Town, Südafrika (2013) und wieder in Savar (2018) stattgefunden.

Überschattet wurde die PHA5 von der dramatischen Lage in Gaza und im Sudan. Aktivist*innen aus Gaza waren nicht persönlich in Mar del Plata anwesend aufgrund der Bedingungen dort und der Verweigerung von Visa durch die argentinische Regierung. Über calls zugeschaltet konnten sie dennoch über die unsäglichen Opfer und Zerstörungen im palästinensischen Gesundheitswesen berichten, sowie über den Einsatz von Hunger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung. Die Versammlung machte deutlich, dass Frieden, Souveränität und Demilitarisierung entscheidende Voraussetzungen für die Verwirklichung des Rechtes auf Gesundheit für alle sind – jetzt vor allem ein sofortiger Waffenstillstand in Gaza!

Die grünen Dreieckstücher der argentinischen Frauen (Foto) verdeutlichen die starke Präsenz feministischer Themen auf der PHA5: Geschlechtergerechtigkeit im Gesundheitswesen, Kampagnen zur Verbesserung des Zugangs zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdiensten, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen im Gesundheitssektor und Abbau patriarchaler Modelle. Frauenmorde, Femicide, die von sozialen Bewegungen in Lateinamerika und der ganzen Welt verzeichnet werden, sind Ausdruck einer weltweiten Krise öffentlicher Gesundheit. Das sagte Marta Montero, die Mutter von Lucía Pérez Montero, einer 16-Jährigen Argentinierin, die Opfer eines Femicids geworden war. Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen in Gesundheitseinrichtungen sind auch in anderen Ländern Lateinamerikas verbreitet. Selbst das Recht auf Abtreibung, in den letzten Jahren vielerorts erstritten, ist noch nicht für alle Frauen Realität, insbesondere nicht für arme, indigene und schwarze Frauen. Gender und LGBTQI+Rechte sind Querschnittsthema aller Kämpfe der PHA5: für ein starkes öffentliches Gesundheitssystem, Frieden und Klimagerechtigkeit.

Dass sich die Gesundheitssysteme immer weiter vom Ziel Gesundheit für alle, einer umfassenden primären Gesundheitsversorgung, entfernen, liegt an der immer stärkeren Finanzialisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens. Was Finanzialisierung bedeutet machte Nicoletta Dentico auf der Versammlung deutlich: „Gesundheitsziele wurden den Werten von Aktionären, Marktschwankungen und finanziellen Misserfolgen unterworfen“. „Die Kräfte der Finanzialisierung sind sehr stark, strategisch, gut organisiert und proaktiv“. Nicoletta kommt von der Gesellschaft für Internationale Entwicklung (SID) in Rom.  Private First, sagt sie, ist zum vorrangigen Prinzip von Regierungen, internationalen Organisationen und Entwicklungsbanken geworden. Dabei gibt es immer mehr wissenschaftliche Evidenz, die belegt, dass Gesundheitssysteme, die auf der Beteiligung des privaten Sektors basieren, einschließlich öffentlich-privater Partnerschaften (PPP) oder wohltätiger privater Stiftungen (z.B. Bill & Melinda Gates Foundation, sogenannter Philantrokapitalismus) nicht dazu beitragen, einen universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erreichen.

Die gegenwärtige Lage der Gesundheitssysteme in Lateinamerika war Gegenstand von Arbeitsgruppen der PHA5. Kolumbien ist ein Beispiel extremer neoliberaler „Reformen“. Durch das Ley 100 (Gesetz 100) von 1993 war das Gesundheitssystem in eine Vielzahl meist profitorientierter privater Krankenversicherer und Dienstleister zersplittert worden. Was die Krankenversicherungen anbetrifft, hatte die Reform eine Zweiklassenmedizin geschaffen, mit beitragszahlenden (régimen contributivo) und staatlich subventionierten Versicherten (régimen subvencionado), wobei letzteren nur ein eingeschränktes Paket medizinischer Leistungen zur Verfügung steht. In der Folge sind ärmere Patient*innen von einer angemessenen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen und im Krankheitsfall oft zu katastrophalen Barzahlungen gezwungen. Der Versuch einer Gesundheitsreform des linken Präsidenten Gustavo Petro hin zu einem universellen Gesundheitssystem ist einstweilen an den Widerständen der mächtigen Kapitalinteressen gescheitert: der Kongress hat den Gesetzentwurf „zu den Akten gelegt“. Auch in Brasilien stößt der Versuch Lula da Silvas und seiner Gesundheitsministerin Nidia Trinidade das Sistema Único de Saúde zu revitalisieren  auf heftigen Widerstand. Einziger Ausweg ist, hier wie dort, die breite Mobilisierung der Bevölkerung für Gesundheit für alle.

Fran Baum, australische Co-Autorin des Entwurfs des Calls to Action (Aufruf zum Handeln), der zum Abschluss von PHA5 verabschiedet wurde, sieht in der Privatisierung des Gesundheitssystems einen Beitrag zur allgemeinen Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, wie sie schon Marx beschrieben hatte. Sie warnte auch vor dem Übergang von Neoliberalismus und staatlicher Austeritätspolitik zu einem neuen Faschismus, wie er sich jetzt mit Javier Milei in Argentinien zeige.

Der „Call to Action“ greift die Forderung nach einer Neuen Internationalen Weltwirtschaftsordnung als Bedingung für Gesundheit für alle wieder auf, die schon die Alma Ata Deklaration von 1978 erhoben hatte. Das schließt die Forderung nach einem ökologischen Umbau, der progressiven Besteuerung von Einkommen, Kapital, Erbschaften und Konzernen sowie einer Transformation hin zu universellen Gesundheitssystemen ein. Denn, so sagte der Kolumbianer Román Vega, globaler Koordinator des PHM, gegenüber der brasilianischen Plattform Outra Saúde: „Der extraktive, transnationale Kapitalismus … blockier[t] durch unterschiedliche Verfahren und Strategien das Erreichen von Gesundheit für alle.“

Christopher Knauth